Der Neanderthaler: knapp 167 Jahre nach der Entdeckung menschenähnlicher Überreste im Neandertal wissen wir mehr als je zuvor über diesen vermeintlichen Höhlenbewohner. Mit der Aussage, dass es sich bei den Knochen um einen Vormenschen handeln musste, hat Johann Carl Fuhlrott damals das gesellschaftliche Denken auf den Kopf gestellt. Heute wissen wir: die Neanderthaler standen uns in nichts nach, was ihr „Menschsein“ angeht!
Anhand archäologischer, paläoanthropologischer und genetischer Forschung können wir uns heute ein genaues Bild über die handwerklichen Fähigkeiten, das Sozialverhalten, die Ernährung und das Aussehen von Neanderthalern machen. Und doch hält sich in vielen Köpfen das damals geprägte Bild des Höhlenmenschen: haarig, grunzend und Keule schwingend.
Ein neues interdisziplinäres Forschungsprojekt der Universitäten Rotterdam und Leiden (Niederlande) versucht zusammen mit dem Neanderthal Museum, diesem Paradox auf den Grund zu gehen. Das Projekt „Neanderthals and us: how the golden age of Neanderthal research challenges human self-understanding” beschäftigt sich damit, wie die neueste Forschung über Neanderthaler und andere Urmenschen unser Selbstbild beeinflusst – oder gar ändert. Von 2023-2025 soll diese knifflige Fragestellung in Form von zwei Dissertationsprojekten bearbeitet werden. Um unser Selbstverständnis zu hinterfragen, reicht es aber nicht, grübelnd am Schreibtisch zu sitzen oder lange in den Spiegel zu schauen. Auch unser Selbstbild – und unsere Identität als Homo sapiens sapiens – gilt es zu erforschen!
Durch Workshops, Diskussionsrunden oder Q&A Sessions beteiligen wir unser Citizen panel – die „Paleo experts“ – eng an der aktuellen Forschung. Durch den wertvollen Kontakt zwischen Bevölkerung und Forschenden entsteht ein intensiver Austausch von Meinungen, Ideen und vielseitigen Sichtweisen. Dadurch profitiert die Neanderthaler-Forschung von der public intelligence unserer Gesellschaft.
Dank Susan Peeters und Karel Kuipers, den Promovierenden des Projekts „Neanderthals & Us“, basiert unsere Forschung sowohl auf verhaltensbiologischen als auch archäologischen Fragestellungen. Zusammen mit ihren Betreuenden Marie Soressi (Universität Leiden) und Hub Zwart (Universität Rotterdam) greift das Projekt somit auf enorme Fachkompetenz zurück.
Susan Peeters widmet sich in ihrer Forschung den „vertrauten Fremden“, dem Neanderthaler. Sie behandelt die Frage, ob wir unsere Beziehung zwischen unseren Vorfahren und uns überdenken sollten. Trotz stetig neuer Erkenntnisse in der Neanderthalerforschung konzentrieren sich die meisten Forschenden immer noch auf die Unterschiede zwischen „den Neanderthalern“ und „uns Menschen“.
Mit ihrer Forschung über Neanderthaler-Stereotypen, Verwendung von Neanderthalern in Medien oder in didaktischen Räumen möchte Susan verstehen, wie sich unser Bild vom Neanderthaler formt. Laut Susan Peeters sollten wir unser Selbstverständnis und unseren Platz in der Welt überdenken, mit dem Bewusstsein, dass es sehr wohl einmal mehr als nur eine Menschenform auf diesen Planeten gab.
“I hope for a diverse panel, with people of all ages and backgrounds, who are curious and open to share and examine their ideas about Neanderthals and what it means to be human. I would like it to be an informal group, with lots of interaction, and want people to feel welcome, and safe to share their opinions and ask questions.”
Susan Peeters
Einen anderen Weg zum Konzept unserer „Menschlichkeit“ nimmt Karel Kuipers. In der Archäologie, so beschreibt er, wird „Mensch“ in zweierlei Konzepten benutzt. Einerseits dient das Wort als Synonym für die Gattung Homo, wie in Homo sapiens sapiens. Andererseits beschreibt „Mensch“ das komplexe Konzept, wie wir uns einen „echten“ Menschen vorstellen, was dieser tun und können muss.
Karel Kuipers möchte mit seiner Forschung zum Begriff „Mensch“ als Beschreibung für ein Fertigkeitspaket eine Lösung aus einem theoretischen Blickwinkel der Archäologie finden. Eine seiner zentralen Fragen: „Was stellt sich die paläolithische Archäologie als Menschen vor?“. Hierfür beschäftigt er sich mit archäologischen Modellen und Theorien, die problematische Begriffe in der archäologischen Forschung in den Fokus nehmen.
“I believe that together we can think of questions and issues that we would never be able to come up with ourselves, which will both help us in developing our own research as well as make it more interesting and/or relevant to what the public wants to learn.”
Karel Kuipers
Beide Forschungsarbeiten dienen dazu, unser menschliches Selbstverständnis zu hinterfragen. Forschung wie das Projekt „Neanderthals & Us“ fordert uns dazu auf, uns eindringlicher damit zu beschäftigen, wie Forschungsergebnisse und Interpretationen durch fehlgeleitete Kommunikation vom eigentlichen wissenschaftlichen Wert abschweifen können. Diese innere Problematik der Archäologie kann nur durch einen integrierten, interdisziplinären Ansatz gelöst werden, so Kuipers.
Mit dem Forschungsprojekt „Neanderthals and us“ beschreitet das Neanderthal Museum gemeinsam mit den Universitäten ein neues Forschungsfeld. Der neue Beirat „Paleo experts“ wird einen wichtigen Anteil an der Forschung über unser Selbstverständnis in Bezug auf unseren nahen Verwandten den Neanderthaler haben.
Wer neugierig wurde und mehr über unser neu gestartetes Forschungsprojekt und den Citizen panel „Paleo experts“ erfahren möchte, der findet weitere Informationen und das Anmeldeformular zum Mitwirken auf der Seite des Forschungsprojektes.
Autor: Dustin Welper M.Sc.