Einmal zur Arktis und zurück – ein Besuch in der Sonderausstellung EIS ZEIT REISE GRÖNLAND

von Louis Vosse

Seit meiner frühen Kindheit träume ich von der Arktis, ihren magischen Nordlichtern und unendlichen schneebedeckten Weiten. Samen oder Inuits, Wikinger, Abenteurer, Mitglieder wissenschaftlicher Expeditionen… Alle Heldinnen und Helden meiner Kindheit waren Menschen, die es gewagt haben, der Kälte zu trotzen, um dort zu leben.

Als ich erfuhr, dass es eine Sonderausstellung über Grönland im Neanderthal Museum geben würde, war es also klar: meine Kinder und ich würden sie uns anschauen. Das Museum ist ohnehin eines unserer Lieblings-Ausflugsziele. Wir sind regelmäßig dort, denn für Kinder gibt es immer etwas Interessantes zu entdecken und zu erleben. Bei schönem Wetter kann man noch eine kleine Wanderung unternehmen, sich die Tiere im Wildgehege anschauen oder sich auf dem Steinzeit-Spielplatz austoben.

Am zweiten Sonntag nach Eröffnung der Sonderausstellung war es soweit: ich packte ein paar Äpfel und Wasser ein und wir brachen zum Museum auf. Wie sich herausstellte, wurde aus dem Ausflug eine richtige Erlebnisreise, die uns ins ferne Grönland transportierte und nachhaltige Einblicke in seine Kulturgeschichte vermittelte. Gerne teile ich hier einige unserer Erlebnisse.

Direkt nach unserer Ankunft begrüßte uns die Kuratorin der Ausstellung, bei der ich eine Führung für uns gebucht hatte. Sie lud uns ins Auditorium ein, wo ein Entspannungsfilm auf eine große Leinwand projiziert wird. Dort werden atemberaubende Landschaftsbilder von Grönland gezeigt, an denen man sich nicht satt sehen kann. Das ist in mehrfacher Hinsicht ein glücklicher Einstieg. In wenigen Minuten konnten alle, insbesondere die Kinder, zu sich kommen und gleichzeitig sanft in eine Welt eintauchen, die für uns fremd ist: wunderschön, karg und erbarmungslos zugleich. So hatten wir unseren Alltag hinter uns gelassen und waren perfekt auf die Inhalte der Ausstellung eingestimmt, bereit sie aufzunehmen…

Melanie Wunsch (ganz rechts) hier bei einer Führung ist Kuratorin der Sonderausstellung.

Ohne zu merken, wie die Zeit verflog, sind wir dann der Kuratorin gefolgt, die uns die verschiedenen Tafeln und ausgestellten Objekte erläuterte. Als Grundlage der Ausstellung dient „Qanga“, eine Graphic Novel von Konrad Nuka Godtfredsen und Lisbeth Valgreen. In vier Bänden ließ das Künstlerpaar die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse über Grönlands Geschichte in spannende Erzählungen („Oqaluttuat“) einfließen. So stellen die vier Bände vier Kapitel der Kulturgeschichte Grönlands für ein breites Publikum dar.

Das erste Kapitel ist dem Leben von Nanu gewidmet, der einer der ersten Siedlergruppen angehört, die ab ca. 2500 v. Chr. aus Sibirien und Alaska über Nordkanada nach Grönland wanderten. Über das Leben der sogenannten Saqqaq- und Independence-People wissen wir bis heute nur wenig, praktisch nur das, was archäologische Quellen uns verraten. Man darf aber nicht meinen, es würde an hinterlassenen Artefakten mangeln. Einige davon sind sogar in der Ausstellung zu sehen. Aufgrund fehlender schriftlicher Quellen und Zeitzeugen hüllt sich ihre Geschichte trotzdem in eine gewisse mythische Aura. Passenderweise verleihen gedämmtes Licht und an die Decke projizierte Polarlichter dem Ausstellungsraum eine beinahe mystische Atmosphäre.

Im Zentrum der Ausstellung hängt ein mit Robbenhaut überzogenes Inuit-Kajak.

Durch eine Mischung einfacher Texte auf Übersichtstafeln, die Hintergrundinformationen über archäologische Funde liefern, und einiger repräsentativer Artefakte und Objekte, die von anderen Kulturhäusern geliehen wurden, ist es dem Ausstellungsteam gelungen, sowohl die verschiedenen Kulturen Grönlands zu erklären und zu illustrieren als auch verschiedene multimediale Zugänge zu Konrad Nukas Werk zu geben. Das ist nämlich das größte Wagnis der Ausstellung: auch wenn Graphic Novels in Deutschland kein unbekanntes Medium mehr sind, ist es nicht zumutbar, die Lektüre eines – oder gar aller vier – Bände vorauszusetzen. Wie soll man ihre Inhalte werkgetreu darstellen, ohne sie bloß zur Verfügung zu stellen?

Wem die Lektüre der Bücher auf Englisch zu anspruchsvoll ist, der kann sich eine kurze Fassung der vier Geschichten anhören, erzählt aus der Perspektive der jeweiligen Protagonisten Nanu, Ukaliatsiaq, Björk und Qajuuttaq. Das ist eine geniale Idee! So kann man sich in die Charaktere hineinversetzen. Es lohnt sich dennoch, sich Konrad Nukas originale Aquarelle genauer anzuschauen. Sie sind bis ins kleinste Detail wissenschaftlich akkurat und gleichzeitig so expressiv, dass man bei manchen Szenen den Eindruck hat, man wäre direkter Zeuge des Geschehens.

Aurélien Jarry und seine Tochter vor den Aquarellen von Konrad Nuka Godtfredsen. Foto: Farina Graßmann

Eine davon im ersten Band der Graphic Novel fand ich besonders beeindruckend. Nanus Onkel stellt seine Jagdfähigkeiten unter Beweis, indem er alleine einen Eisbären mit nichts weiter als einem Speer tötet. Ein Blick auf einen ausgestellten Eisbärenschädel in einer benachbarten Vitrine reichte, um mich zu vergewissern, wie gefährlich es ist, mit solchen Tieren ein Territorium zu teilen. Während ich etwas in die Lektüre vertieft war, überraschte mich plötzlich meine Tochter: „Guck mal, Papa, ich habe einen „Nanoq“ gezeichnet, so einen wie den da!“ Etwas verdutzt schaute ich auf ihre Zeichnung, darauf sah ich in der Tat einen Eisbären. Den Begriff aus der Inuktitut-Sprache hatte sie sich selbst von einer Erklärungstafel beigebracht und fleißig ihrem Kunstwerk beigefügt. So ging meine Tochter selbstständig ihren eigenen Pfad durch die Ausstellung und erschloss sich deren Inhalte.

 

Alle diese Erzählungen sind bewegend, mitreißend und auf ihre Art zugleich befremdlich. In ihnen tauchen tapfere Jäger auf, die an Hilfsgeister glauben, gläubige Christen, die noch an alten Traditionen hängen und in Ehrfurcht vor Gott leben, kluge und kooperationsbereite Handelsleute, die zwischen verschiedenen Kulturen vermitteln. Alle sind Teile dessen, was die moderne Identität Grönlands ausmacht. Wer die aktuellen, brisanten Entwicklungen der grönländischen Gesellschaft besser nachvollziehen möchte, die wegen der Dekolonisierung und der Klimaveränderungen im Wandel begriffen ist, dem wird die Ausstellung eine Fundgrube sein.

Seit unserem ersten Besuch waren wir wiederholt in der Ausstellung. Unsere Begeisterung für diese Welt ist dadurch noch gewachsen. Beim ersten Mal hatten wir das Glück, von der Kuratorin selbst begrüßt und durch die Ausstellung geführt zu werden. Wer aus erster Hand mehr über die Ausstellung und das Land selbst erfahren möchte und eine Reise hin und zurück an nur einem Tag ins faszinierende Grönland erleben möchte, der sollte sich eine solche Gelegenheit nicht entgehen lassen.

Autor: Aurélien Jarry
Fotos:
– Titelbild ©Farina Graßmann
– weitere Bilder, wenn nicht anders gekennzeichnet ©Neanderthal Museum

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