Robin John erforscht dank des Helga-Raddatz-Stipendiums, wie mit neuen Software-basierten Ansätzen bisher verborgen gebliebene Entwicklungen an Projektilen für die Jagd aus der Steinzeit entdeckt werden können. Dieses Jahr hat er gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen einen ersten Artikel zur neuen Software PyREnArA veröffentlicht.
Lieber Robin, du betrachtest Jahrtausende alte Steinspitzen aus einem ganz neuen, digitalen Blickwinkel. Gemeinsam mit deinen Kolleginnen und Kollegen hast du ein neues Software-Tool für die archäologische Forschung entwickelt: PyREnArA. An welchem Punkt in der archäologischen Forschung setzt ihr mit PyREnArA an? Wie kann uns PyREnArA bei der Erforschung unserer Vergangenheit helfen?
Spätestens seit dem 19. Jahrhundert beschäftigen sich Forschende wie ich gezielt mit den materiellen Belegen unserer frühesten Geschichte. Dabei handelt es sich insbesondere um Steinwerkzeuge. Steinwerkzeuge werden traditionell „typologisch“ voneinander unterschieden. Das bedeutet, dass sie auf Grund besonderer Merkmale in Typen einsortiert werden. Nehmen wir als Beispiel den Typ „Schaber“: Werkzeuge, die entlang ihrer seitlichen Kante eine bestimmte Bearbeitungsspur aufweisen, die Archäologinnen und Archäologen Retusche nennen, werden in der Forschung „Schaber“ genannt.
Da immer mehr archäologische Funde gemacht wurden und werden, wurden auch immer mehr solcher Typen von Forschenden auf der ganzen Welt aufgestellt. Diese Typen benutzen Forschende bis heute, da sie sich gut dazu eignen, um die Vielseitigkeit von archäologischen Funden zu beschreiben. Beispielsweise können wir damit auf einer Ausgrabung unsere Funde in Typen wie „Schaber“, „Bohrer“ und „Projektilspitzen“ unterscheiden.
Alle drei Bilder: ©Fundort Longueroche, Sammlung DISAPALE, Original aus Ur- und Frühgeschichtliche Sammlung der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU)
Es wird noch etwas komplizierter: diese Typen haben wiederum Untertypen. Untertypen können, je nach Zeitraum, geographischer Verortung oder Forschungstradition, unterschiedlich benannt werden. Besonders viele Untertypen gibt es bei den Projektilspitzen, also den Einsätzen in Jagdwaffen. Das kann zum Beispiel eine Speer- oder eine Pfeilspitze sein. Diese Projektilspitzen waren sehr wichtig für das Jagen in der Steinzeit, sodass unsere Vorfahren mit der Zeit ganz verschiedene Spitzentypen entwickelten.
Wenn wir uns jetzt als Forschende mit der Frage beschäftigen wollen, wie sich solche Spitzen eines Typs beispielsweise durch die Zeit entwickelt haben, müssen wir die gefundenen Spitzen einzeln untersuchen. Dafür verwenden wir sogenannte „Aufnahmesysteme“. Das Ergebnis eines solchen Aufnahmesystems ist ein standardisierter und deshalb vergleichbarer Datensatz zu unseren gefundenen Spitzen. Diese Datensätze zu den verschiedenen Funden können dann in statistischen Analysen verwendet werden. So können wir Veränderungen an vielen Spitzen eines Typs untersuchen.
Wenn es uns gezielt um die Form und die Maße von Funden geht, müssen wir jeden Fund einzeln standardisiert vermessen. Wie man sich sicherlich vorstellen kann, sind solche Messungen an hunderten Artefakten extrem zeitaufwändig. Auch sind sie anfällig für Fehler beim Messen oder Übertragen der Daten. Außerdem sind wir dabei auf nur wenige, von Hand messbare Werte beschränkt.
Und hier kommt PyREnArA ins Spiel: PyREnArA kann uns eine Vielzahl metrischer Werte zu beliebig vielen Artefakten in Sekundenschnelle berechnen! Diese Werte können dann im Anschluss in verschiedenen vorprogrammierten statistischen Funktionen analysiert werden. So kann die Software uns zum Beispiel Aussagen über die Entwicklung der Artefakte über viele tausend Jahre hinweg erlauben.
Wie haben sich die von euch mit PyREnArA untersuchten Spitzen im Laufe der Jahrtausende verändert? Gab es vielleicht Eigenschaften, die lange unverändert blieben?
In unserem ersten Testlauf haben wir die typischen Spitzen des sogenannten Gravettiens (ca. 33.000–25.000 Jahre vor heute) aus Niederösterreich und Mähren – einem regelrechten Hotspot für Jägerinnen und Sammler zu dieser Zeit – untersucht. Diese Spitzen sind typischerweise langschmal. Sie weisen die für den Typ „Gravettespitze“ typischen seitlichen Retuschen auf, die es den Jagenden erlaubte, die Spitzen seitlich in ihre Speere einzukleben. Außerdem haben sie eine Retusche auf der Rückseite der Spitze.
Wir konnten feststellen, dass diese Spitzen sich im untersuchten Zeitraum von knapp 5.000 Jahren nur gering verändern. Das bedeutet, dass Jägerinnen über hunderte Generationen hinweg sehr ähnliche Spitzen verwendet haben. Das ist sehr beachtlich! Die Veränderungen, die wir feststellen konnten, gehen auch nicht in dieselbe Richtung. Durch die Zeit gab es bei diesen Spitzen verschiedene Trends und Gegentrends.
Wenn wir aber den Gesamtdatensatz beobachten, so sehen wir Ansätze dafür, dass die Spitzen zum Ende des Gravettiens spitzer, langschmaler und symmetrischer werden. Dieses Ergebnis interpretieren wir als Anzeichen dafür, dass die Spitzen später nicht mehr ausschließlich seitlich, sondern nun auch frontal geschäftet wurden.
Interessanterweise wissen wir, dass mit dem Ende des Gravettiens seitliche Einsätze zunächst aus der Mode kommen und frontal geschäftete Spitzentypen auftreten. Zum Beispiel kommen die sogenannten Kerbspitzen ab ca. 30.000 vor heute in dieser Region erstmals auf und gewinnen zunehmend an Bedeutung. Dieser Spitzentyp vereint die Funktionen einer seitlichen Schneide und einer frontalen Spitze.
In eurem Artikel habt ihr euch auf Funde aus Niederösterreich und Mähren konzentriert. Welche Partner sind an eurer Forschung beteiligt? Wollt ihr noch mehr Länder und Regionen in euer Datenset aufnehmen?
Wir haben für dieses Projekt eng mit Kolleginnen und Kollegen des Naturhistorischen Museum in Wien und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zusammengearbeitet. Den geographischen Raum für diese erste Fallstudie haben wir bewusst begrenzt. In meinem Promotionsprojekt „Nur die Spitze des Eisbergs?“ möchte ich unsere Methode auf Spitzen aus ganz Europa ausweiten.
Was sind die Vorteile eurer Methode gegenüber der bisherigen typologischen Herangehensweise? Können sich die beiden Ansätze möglicherweise ergänzen?
Wir präsentieren unsere Methode bewusst nicht als Ersatz für die traditionelle typologische Methode. Die typologische Methode hat, wie ich zu Beginn beschrieben habe, ihre Stärken in der Gliederung unserer archäologischen Funde und bei der Darstellung ihrer Vielseitigkeit. Wofür sie jedoch ungeeignet ist, ist die Analyse von Variation innerhalb einzelner Typen. Das ist genau da, wo wir mit PyREnArA ansetzen.
Können auch andere Forschende in Zukunft ihre Analysen mit PyREnArA bereichern?
PyREnArA haben wir zu Beginn des Jahres allen Forschenden öffentlich auf Github und Zenodo zur Verfügung gestellt. Wir freuen uns sehr, dass bereits jetzt, ein knappes halbes Jahr später, Forschende Kontakt zu uns aufgenommen haben, die sich für unsere Methode interessieren und planen diese auf ihre Fallstudie anzuwenden.
Für Neugierige gibt es hier den Originalartikel zum Nachlesen:
https://link.springer.com/article/10.1007/s41982-023-00145-z
Maier, Andreas & John, Robin & Linsel, Florian & Roth, Georg & Antl-Weiser, Walpurga & Bauer, Lisa & Buchinger, Norbert & Cavak, Levin & Hoffmann, Helen & Puschmann, Janos & Schemmel, Marcel & Schmid, Viola C. & Simon, Ulrich & Thomas, Roswitha. (2023). Analyzing Trends in Material Culture Evolution—a Case Study of Gravettian Points from Lower Austria and Moravia. Journal of Paleolithic Archaeology. 6. 10.1007/s41982-023-00145-z.
Autor: Robin John, MA – NRW Stiftung – Helga Raddatz-Stipendium