Dr. Ghasidian: Der Weg der Neanderthaler nach Asien

von Louis Vosse
Dr. Ghasidian bei einer ihrer Ausgrabungen im Norden des Irans.

Dr. Elham Ghasidian erforscht in unserem Haus die Neanderthaler und ihre Wege von Europa nach Zentralasien. Zusammen mit ihren Kolleginnen und Kollegen hat sie dieses Jahr neue Forschungsergebnisse zu den möglichen Routen veröffentlicht, die die Neanderthaler vor tausenden von Jahren durch den Iran geführt haben. 

Liebe Elham, du bist Herzblut-Archäologin und seit Jahren mit vollem Einsatz als Forscherin tätig. Was ist deine Lieblings-Erkenntnis aus eurer neuesten Forschung? 

Durch meine Forschung habe ich kürzlich herausgefunden, dass der südliche Kaspische Meereskorridor eine wichtige Region ist, die den Westen (Europa und Kaukasus) und den Osten (Zentralasien) verbindet. Damit könnte er als wichtiger Ort für Begegnungen zwischen verschiedenen Homininen-Typen, einschließlich Neanderthalern und Homo sapiens, gedient haben. 

Im Neanderthal Museum werden die Verbreitungs- und Überschneidungsgebiete verschiedener Homininen-Typen anhand einer großen Weltkarte veranschaulicht. Die grünen Punkte stehen hier für den Homo neanderthalensis und die roten für den Homo sapiens.

In eurem Artikel beschreibt ihr zwei mögliche Ausbreitungsrouten, die Neanderthaler damals genommen haben könnten. Wie erstellen Archäologinnen und Archäologen solche uralten Routen? 

Wir haben ein spezielles Computerprogramm und einige Parameter verwendet, die für die Neanderthaler in Bezug auf Leben und Bewegung wichtig waren. Natürlich haben wir auch die bereits bekannten Neanderthaler-Fundstellen in der Region einbezogen. Basierend auf all diesen Informationen haben wir dann zwei mögliche Migrationsrouten vorgeschlagen, die unseren Annahmen über das Leben von Neanderthalern gerecht werden. 

Was sind die größten Unterschiede zwischen den beiden Routen? Haben die Neanderthaler vielleicht eine Route bevorzugt? 

Meine Studie zeigte, dass mindestens zwei Gruppen von Neandertalern mit zwei Kulturgruppen (Micoquian und Mousterian) diese beiden Routen nutzten. Ob diese Gruppen untereinander Kontakte hatten, ist bislang ungeklärt. Unsere Modellierung zeigte auch, dass die südliche Route über den südlichen kaspischen Korridor für Neandertaler der kürzeste und bequemste Weg war, um in die weiten Gebiete Zentralasiens und des sibirischen Altai zu gelangen. Natürlich brauchen wir nun mehr Beweise, um dies eingehend untersuchen zu können. 

Die zwei möglichen Ausbreitungsrouten bis zur Chagyrskaya-Höhle im sibirschen Altai, die Dr. Ghasidian und ihre Kolleginnen und Kollegen erforschen. Die gelbe Linie zeigt die nördliche Ausbreitungsroute. Die grüne Linie zeigt die südkaspische Ausbreitungsroute. 1: Azokh Höhle in Kleiner Kaukasus, 2. Teshik Tash Höhle in Uzbekistan, 3. Mesmaiskaja-Höhle in Großer Kaukasus, 4. Chagyrskaya-Höhle. Abbildung aus Ghasidian et al 2023. 

Wann sind die Neanderthaler denn von Europa aus nach Asien gestartet? Und wie lange hat es für sie in etwa gedauert, von Europa nach Zentral-Asien zu gelangen? 

Die derzeit vorhandene Datierung reicht leider nicht aus, um diese Frage sicher zu beantworten. Was wir dank dem aktuellen Stand der Forschung wissen, ist, dass die Neanderthaler im Nord- und Südkaukasus (den zwei Startpunkten in unserem Artikel) vor sehr langer Zeit gelebt haben; datiert wurden sie ungefähr auf 100.000 bis 40.000 Jahre vor heute. 

Auf der anderen Seite unserer Route (dem Endpunkt in unserem Artikel) waren die Neanderthaler im sibirischen Altai und in Zentralasien seit etwa 80.000 bis vor 35.000 Jahren  vor heute präsent. Was wir mit Sicherheit sagen können, ist, dass die Neanderthaler in dieser Zeitspanne eine lange Reise von Europa bis nach Zentralasien unternahmen. 

Das hat ja extrem lange gedauert! Standen die Neanderthaler entlang der verschiedenen Routen denn miteinander in Kontakt? Oder haben sie vielleicht andere, neue Menschen getroffen? 

Sicherlich hatten sie Kontakt zu anderen Homininen-Gruppen, wie zum Beispiel uns Homo sapiens, oder den Denisova-Menschen. Denn zu diesem Zeitpunkt hatten die anatomisch modernen Menschen Afrika bereits verlassen und waren auf dem Weg, die alte Welt zu entdecken. Auch andere Menschenarten, wie die Denisova-Menschen, waren im sibirischen Altai aktiv präsent. Daher ist der Kontakt zwischen diesen verschiedenen Homo-Formen nicht ausgeschlossen; wir benötigen jedoch weitere Beweise (einschließlich genetischer und fossiler), um dies sicher belegen zu können. 

Das Alborz-Gebirge beherbergt viele Höhlen und Felsunterstände, die im Paläolithikum eine wichtige Zufluchtsfunktion (Refugium) für verschiedene Menschen spielten. Noch heute ist die Landschaft von grünen Wäldern, steilen Felsschluchten und dem nahen Meer geprägt.  

Bei deiner Forschung konzentrierst du dich vor allem auf die Route, die südlich am kaspischen Meer entlang führt. Wie sah damals die Landschaft am südkaspischen Korridor aus? Was für Tiere und Pflanzen haben die Neanderthaler damals gefunden? 

Der Südkaspische Korridor ist eine besondere Region. Die Lage zwischen dem hohen Alborz-Gebirge und dem Kaspischen Meer bot im Vergleich zu den Nachbarregionen stets milde klimatische Bedingungen. In dieser Region gibt es den hyrkanische Urwald, der stolze 25 bis 50 Millionen Jahre alt ist! Hier leben heute gut 180 Vogelarten, die typisch für solche Laubwälder in gemäßigten Zonen sind, sowie 58 Säugetierarten. In den paläolithischen Fundstellen dieser Region wurden bisher auch schon Überreste von großen Tieren wie Flusspferden, den ausgestorbenen Höhlenbären, Riesenhirschen und kaspischen Pferden gefunden. Diese besondere Region war schon immer attraktiv für Lebewesen, und ich kann mir vorstellen, dass sie auch für verschiedene Menschentypen sehr verlockend war. Sie diente als Zufluchtsort, als Refugium, während der Klimaverschlechterung im Paläolithikum.  

Das klingt richtig idyllisch! Da sind einige Neanderthaler sicher direkt dort geblieben? 🙂  

Ja, genau. Vor dem Hintergrund der hier kurz zusammengefassten Bedingung kommen wir in unserer Publikation zu dem Schluss, dass der südliche Kaspische Korridor eine doppelte Rolle hatte: als Zufluchtsort (Refugium) und als Siedlungsraum für Neandertaler und andere Homininen, aber auch als Expansionskorridor, der westliche und östliche Gebiete, nämlich den Kaukasus und Zentralasien, über Jahrtausende hinweg miteinander verband. 

Eine paläolithische Höhle im südkaspischen Korridor, Nord-Iran.

Letzte Frage: könnten auch spätere Menschenformen wie wir Homo sapiens diese Routen genutzt haben? 

Ja natürlich. Im Paläolithikum benötigten die Menschen ausreichend Nahrung (durch Jagen und Sammeln), Wasser und Unterkunft. Die von uns untersuchte Region bot reichhaltige Nahrungs- und Wasserquellen, und im Alborz gibt es viele Höhlen und Felsunterstände, die menschliche Gruppen beherbergen können. Aus den letzten Phasen des Paläolithikums gibt es auch Fundstellen, die direkt auf eine intensive Besiedlung hinweisen. Zum Beispiel die Hotu-, die Belt- und die Eltape-Höhlen mit Tausenden von Steinartefakten aus der Zeit von vor etwa 18.000 Jahren. Es gibt auch viele Beispiele aus der vorneolithischen und neolithischen Zeit, bis hin zur historischen Zeit. Diese Region, auch wegen der oben erwähnten Erklärung, ist sogar heute ein belebtes Gebiet. 

Vielen lieben Dank Elham für den Einblick in deine Forschung!  

Ich danke für dieses Interview und danke meinem Team im Iran und in Deutschland für all ihre Hilfe bei der Teilnahme an der Ausgrabung und bei der Interpretation der Daten.  

 

Für Neugierige gibt es hier den Originalartikel zum Nachlesen: 

Modelling Neanderthals’ dispersal routes from Caucasus towards east | PLOS ONE  

Ghasidian E, Kafash A, Kehl M, Yousefi M, Heydari-Guran S (2023) Modelling Neanderthals’ dispersal routes from Caucasus towards east. PLoS ONE 18(2): e0281978. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0281978 

Evolution-Festival

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