ROCEEH & ROAD: Die Vermessung der paläolithischen Welt 

von Louis Vosse
Dr. Andrew Kandel mit seinen Kollegen vor der Aghitu 3 Höhle

Wir durften die Forschenden PD Dr. Miriam N. Haidle (Wissenschaftliche Koordinatorin ROCEEH, Universität Tübingen und Senckenberg Frankfurt/M.) und Dr. Andrew W. Kandel (ROCEEH-Senior Researcher, Universität Tübingen) zu ihrer Forschungsstelle „The Role of Culture in Early Expansions of Humans“ (kurz: ROCEEH) und einem ganz besonderen Ergebnis ihrer Arbeit interviewen: der Datenbank ROAD. Die Forschungsstelle ROCEEH der Heidelberger Akademie der Wissenschaften wurde 2008 ins Leben gerufen und widmet sich mit einem interdisziplinären Team der Erforschung unserer kulturellen, ökologischen und geografischen Entwicklung in der Steinzeit.

Miriam, Andrew, was sind eure frühesten Erinnerungen an die Entstehungsphase von ROCEEH? Welche Erwartungen hattet ihr damals an eure zukünftige Forschung über menschliche Kultur?  
AWK: Das ist eine witzige Frage, denn der Anfang des Projektes, als wir die ROAD-Datenbank entwickelten, war sehr intensiv! Das Team musste dabei bei Null anfangen. Wir trafen uns einmal im Monat, um die möglichen Inhalte der Datenbank zu diskutieren. Jede*r Forscher*in hatte eine eigene Meinung über die Begriffe, die wir in ROAD verwenden sollten. Wir mussten präzise sein, es konnte nur jeweils einer davon in der Datenbank landen. Nach viel Hin und Her und sehr konkreten Diskussionen konnte sich das Team über die Definitionen aller Begriffe in ROAD einigen. Am Ende haben wir ein Heft geschrieben, die sogenannte „Tabellen-Beschreibungen“, in dem alle Begriffe in ROAD ausführlich beschreiben sind, so dass jeder versteht, was dahintersteckt.  
MH: Meine frühen Erinnerungen drehen sich um Interdisziplinarität. Von Beginn an versuchten wir, schon in unsere Fragen viele Perspektiven miteinzubeziehen, z.B. Ausbreitung/Expansion nicht nur räumlich zu denken, sondern auch kulturell und auf Ressourcen bezogen. Aber wie schwer war es, diese Fragen nicht nur aus dem eigenen fachlichen Blickwinkel zu sehen, sondern andere mit einzubeziehen und dadurch ganz neue Verknüpfungen zu finden! Die Archäolog*innen, die Naturwissenschaftler*innen und die Geograph*innen standen sich skeptisch gegenüber, obwohl es klar war, dass wir es nur gemeinsam schaffen konnten. Aber unsere Visionen waren stark genug!  


Performanz, Ressourcenraum und Lebensraum: diese drei Faktoren haben im Zusammenspiel miteinander die Entwicklung unserer menschlichen Kultur vorangetrieben. Gibt es eine Fundstelle oder ein Fossil in eurer Forschung, an der dieses Zusammenspiel besonders deutlich wird?
 

AWK: Vielleicht beziehe ich mich zu viel auf meiner eigenen Forschung, aber die Fundstelle Aghitu-3 Höhle in Armenien ist ein wunderbares Beispiel. Da arbeite ich seit 2009 zusammen mit meinem Forschungspartner, Boris Gasparyan, von der armenischen Akademie der Wissenschaften. Innerhalb eines mächtigen Profils von über 5 Meter Sediment haben wir einen feingegliederten Schnappschuss der Zeit zwischen rund 40,000 und 24,000 Jahre vor heute, des sogenannten Jungpaläolithikums. Wir sehen Belege für die ersten anatomisch modernen Menschen, die in dem armenischen vulkanischen Hochland gesiedelt haben. Mit sich brachten sie neue Technologien für Steinwerkzeuge, die sich von den älteren der Neanderthaler deutlich unterscheiden.. Dazu haben die Bewohner der Aghitu-3 Höhle eine Nähnadel und andere Knochenwerkzeuge sowie Schmuckschnecken hinterlassen, die auf die Nutzung von feingenähter und geschmückter Kleidung hinweisen. Diese Funde zeigen die wichtige Wechselwirkung zwischen Performanz, Ressourcenraum und Lebensraum ganz eindeutig, da die neuen Fähigkeiten den Menschen erlaubten, neue Räume mit anderen Ressourcen zu besiedeln.  
MH: Für mich ist es Feuer! Der Umgang mit Feuer, es von natürlichen Quellen an einen anderen Ort zu bringen, es kontrolliert über längere Zeit zu erhalten, es selbst zu entfachen sind kulturelle Leistungen, Performanzen. Feuer ist ein Werkzeug, das – kulturell angewendet – durch Licht, Wärme und Rauch neue Ressourcen zugänglich macht: schwer verdauliche Dinge werden genießbar, manche Nahrung wird länger haltbar, es kann Rohmaterialien verändern, z.B. Holz härten. Mithilfe von Feuer können neue Werkstoffe wie Birkenpech oder Keramik geschaffen werden. Durch eine Verlängerung des Tages (Licht!) und Schutz vor Raubtieren öffnet es neue soziale Räume, die z.B. fürs Geschichtenerzählen und Lernen genutzt werden können. Gleichzeitig braucht Feuer neue Ressourcen: Brennstoffe mit verschiedenen Eigenschaften waren ohne Feuer uninteressant, Werkzeuge und Techniken zum Erhalten und später Entzünden wurden mit Feuer wichtig. Und Feuer benötigt Arbeitskraft und Aufmerksamkeit, um Brennmaterial zu sammeln und es über Stunden, gar Tage hinweg zu erhalten. Die Beherrschung von Feuer war ein entscheidender Faktor für die Erweiterung der menschlichen Lebensgrundlagen und der dauerhaften Ausweitung menschlicher Lebensräume in ohne Feuer unwirtliche Gebiete. 

Die vielfältigen Vorteile durch Feuernutzung. ©Bastian Groscurth, Archäologisches Museum Frankfurt/Main & ROCEEH)

Miriam, du koordinierst dieses riesige Forschungsunterfangen nun schon seit über 15 Jahren! In dieser Zeit hat sich sicher vieles verändert – vom Team über den Forschungsstand bis hin zu den euch verfügbaren Methoden. Gab es Momente, in denen du diese Entwicklungssprünge bei ROCEEH besonders bemerkt hast? 
MH: 2010 hat die Genetik mit der Entschlüsselung des Neandertalergenoms und der Entdeckung der Denisova-Menschen für einen Wendepunkt in unserer Erzählung der tiefen Menschheitsgeschichte gesorgt. Die Vielfalt früher Menschenformen war größer als gedacht und Vermischungen keine Seltenheit. Der Blick auf Neandertaler veränderte sich dadurch immens. Und unsere Sicht auf die kulturellen Leistungen unserer Vorfahren hat sich durch neue Funde wie die Holzgeräte von Schöningen und neue Betrachtungsweisen zwar schleichender, aber im Ergebnis genauso deutlich gewandelt. Die kulturellen Leistungen schon in der frühen Steinzeit können nicht mehr nur Nerds der Steintechnologie erkennen. Menschen waren schon viel früher als gedacht zu sehr komplexen Handlungen fähig und beeinflussten aktiv ihre Umwelt. Dies wirft ganz neue Fragen auf zur Entwicklung ihrer geistigen und sozialen Fähigkeiten wie Planung, Sprache, Lernen. 

Ein Ausschnitt aus dem Universum früher menschlicher Kultur. Hinter den Funden von Steinwerkzeugen und Knochen von Beutetieren sind viele verschiedene Faktoren sowie soziale und materielle Entwicklungsprozesse verborgen. ©Bastian Groscurth, Archäologisches Museum Frankfurt/Main & ROCEEH

Andrew, in ROAD verknüpft ihr tausende Informationen zur Archäologie, der Umwelt und dem Klima der Steinzeit. Wie helfen uns solche fächerübergreifenden Vernetzungen, wenn wir mehr über unsere menschliche Vergangenheit erfahren wollen?  
AWK: Die Datenbank ROAD hilft in vielen Weisen. Ohne Registrierung kann jeder, auch wenn man sich mit der Forschung nicht so gut auskennt, mehr über tausende Fundstellen und Funde erfahren. Mit dem Aufruf eines „ROAD Site Summary Sheet“ (Anm.: oben links) bekommt man einen Überblick über einzelne Fundstellen. Falls man tiefer reingehen möchte – beispielsweise für einen Überblick über eine Fundgattung, eine Zeitscheibe, eine Region, oder eine Kultur – kann man „ROAD Simple Search“ anwenden. Diese Funktion ermöglicht einen intuitiven und interaktiven Umgang mit ROAD ohne Vorkenntnisse. Die Ergebnisse werden auf einer Karte angezeigt und die betreffenden Fundstellen werden aufgelistet. Mit dem neuen Werkzeug „Ask ROAD“ kann man verschiedene Abfragen verknüpfen und die Ergebnisse herunterladen. So bekommt man Tabellen von Fundstellen mit den ausgewählten Kriterien. Und schließlich können Forscher*innen mit Login noch tiefer in ROAD einsteigen, um komplexe Abfragen zu beantworten.  

ROAD – Eine digitale Weltkarte unserer Menschheitsgeschichte 

Mit Funden, Fossilien und Ausgrabungsstätten aus einem Zeitraum von drei Millionen bis 20.000 Jahren deckt die Datenbank ROAD die beeindruckende Vielfalt unserer Humanevolution ab. ROAD wurde im Rahmen von ROCEEH entwickelt und ist eine der umfangreichsten digitalen archäologischen Datenbanken, die zudem frei zugänglich ist.  

Karte aller Fundstellen in ROAD. ©A. Kandel aus dem WebGIS in ROAD

Andrew, große Gebiete der Welt, wie zum Beispiel Russlands Norden oder Tschad, Mali und Nigeria in Afrika, bleiben auch in einer riesigen Datenbank wie ROAD noch leer. Was bedeutet das für unsere Forschung zur Welt der Steinzeit? AWK: Das ist eine sehr gute und wichtige Frage! Diese Leerstellen sind uns auch aufgefallen. Sie haben mehrere Gründe. Zum einen gibt es Gebiete, wo Menschen tatsächlich selten oder sogar gar nicht waren – z.B. nördliche Breiten, Hochgebirge, Inseln. Zum anderen hat sich die urgeschichtliche Forschung in den verschiedenen Regionen über mittlerweile fast zwei Jahrhunderte unterschiedlich entwickelt. In Europa nahm sie bereits mit der Entdeckung von Neandertalern in den 1850er und 1860er Fahrt auf. Im südlichen Afrika ging es erst in den 1920er los. Die Forschungsgeschichte ist also unterschiedlich und damit auch die Zeitspannen, in denen Wissen über die Regionen gesammelt wurde. Hinzu kommen Fragen wie Forschungsfinanzierung, lokale Infrastruktur, politische Stabilität und vieles mehr, was Einfluss auf die Forschung haben. Außerdem können die Erhaltungsbedingungen und die Möglichkeiten des Auffindens ganz verschieden sein: durch Verschiebung der Erdplatten sind in Ostafrika über mehrere Millionen Jahre alte Schichten aufgefächert, hier lohnt es sich aktiv zu suchen. In der Sahara und in den Weiten Sibiriens sind wir vor allem auf Zufallsfunde angewiesen. 

Andrew, welche neuen Funktionen und Anwendungsmöglichkeiten wünscht du dir in Zukunft für ROAD? AWK: 2024 haben wir „Ask ROAD“ gestartet. Diese Funktion unterstützt vor allem Forscher*innen der menschlichen Evolution, Daten selbständig aus ROAD zu gewinnen. Sie nutzen die Daten auch in Weisen, die wir selber nicht vorhergesehen haben. In den letzten zwei Jahren zum Beispiel wurden Studien mithilfe von ROAD publiziert über die Entwicklung von Ockernutzung in Afrika, die Veränderung der Nischen für Aasfresser und Karnivoren durch Menschen in Europa und die Erweiterungen von neuen ökologischen Nischen für Menschen in Afrika. Es gibt schon über 40 Publikationen, für die ROAD verwendet wurde und ich bin gespannt, was in Zukunft alles damit erforscht wird! ROCEEH arbeitet gerade an einem R-Paket, einer statistischen Anwendung, mit der sich ROAD-Daten direkt noch besser analysieren lassen. Mehr zu berichten habe ich hoffentlich im Sommer 2025.  

Die Luftfahrtpionierin Amelia Earhart und ihre Lockheed Vega 5B markieren einen der beiden Flugmodi der TimeFlies-App, die auf der Einstiegsseite ausgewählt werden können. ©Florian Diller & ROCEEH

Neben eurer Forschung engagiert ihr euch auch in Aktionen wie “Coding da Vinci”, dem ersten deutschen Hackathon für offene Kulturdaten. Dabei ist 2022 zum Beispiel das Mini-Game “TimeFlies“ entstanden. Konnte euch der Hackathon neue Perspektiven auf eure eigenen Daten eröffnen?  
MH: Ja, man lernt die eigenen Daten mit ganz anderen Augen zu sehen. Bei TimeFlies kann man in zwei verschiedenen Modi mit den aus der realen Welt entlehnten Charakteren der Flugpionierin Amelia Earhart und des Luftbildarchäologen Otto Braasch und in unterschiedlichen Zeitscheiben über Afrika hinwegfliegen. Dabei lassen sich nicht nur immer wieder „neue“ Fundstellen mit zugehörigen Kurzinformationen entdecken, sondern man erfährt auch im Überblick, welche Funde es in einer Region gibt. Eine Schülergruppe wiederum hat unseren Datensatz mit Daten zur Bevölkerung Mannheims im 17. und 18. Jahrhundert verknüpft. Wichtig war beiden Projekten besonders die räumliche Verknüpfung unserer Daten. Und bei den Präsentationen für die Datentüftler haben wir gelernt, unsere Arbeit ganz anders vorzustellen, als wir es für Wissenschaftler*innen gewohnt sind. 

Plakat der Menschsein-Ausstellung. ©Bastian Groscurth, Archäologisches Museum Frankfurt/Main & ROCEEH

Neben digitalen Tools habt ihr mit euren Forschungsergebnissen auch eine interaktive Ausstellung entwickelt. “Menschsein. Die Anfänge unserer Kultur wurde 2021 im Archäologischen Museum Frankfurt eröffnet. Wie war es für euch, Jahrzehnte eurer Forschung in interaktive Stationen und Vitrinen zu übersetzen?  
MH: Einfach genial! Wir schreiben normalerweise detailversessene Artikel über einzelne Aspekte der Menschheitsentwicklung. Hier war die Aufgabe, unsere Forschung zusammenzufassen, allgemeinverständlich herunterzubrechen und in genießbaren Häppchen zu servieren. Wir konnten in der Materialisierung unserer eigenen Arbeit herumlaufen! Wenn man mit Besucherinnen und Besuchern geredet hat, kamen neue Fragen auf, die wir uns so noch nicht gestellt hatten. Und die interaktiven Stationen wie die eigenen Fußspuren im Vergleich mit denen von Australopithecinen, ein Riesenfaustkeil zum Zusammensetzen oder eine Lernbox, wie sie für Experimente mit Schimpansen und Kleinkindern verwendet wird, waren ein Riesenspaß: wir durften mit unserer Arbeit spielen!  

Vielen herzlichen Dank an Miriam und Andrew  
für die spannenden Einblicke in die Erforschung unserer Humanevolution!

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1 Kommentare

Louis Vosse 25. Februar 2025 - 11:52

Sehr interessantes Interview. Vielen Dank!

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