Nach dem jüngsten Sensationsfund von neun Neanderthalern in der Guattari-Höhle südlich von Rom, hat uns Gianpiero Di Maida, der in der Höhle schon einmal selbst zugegen war und im Neanderthal Museum Projektleiter des Forschungsprojektes DISAPALE ist, einen sehr interessanten Blogartikel über die Bedeutung und Hintergründe des Fundortes geschrieben.
Die Küste Süditaliens ist von Ortsnamen in Anlehnung an die Abenteuer des Odysseus während seiner 20-jährigen Reise durch das Mittelmeer durchzogen, die traditionell diesem Gebiet der Welt zugeschrieben werden: Scylla und Charybdis bilden die beiden Enden der Messina-Straße (eine Meerenge zwischen dem italienischen Festland und Sizilien): Hier an der Ostküste Siziliens am Hang des Ätna soll die Sage um Odysseus und den Zyklopen Polyphem stattgefunden haben. Odysseus Begegnung mit Circe, der Zauberin, wird stattdessen traditionell einem Vorgebirge fast genau auf halbem Weg zwischen Neapel und Rom zugeschrieben – dem Capo Circeo, benannt zu Ehren seiner prominentesten mystischen Bewohnerin.
Dieses Gebiet ist heutzutage ein bekannter und nobler Ferienort mit unberührten Stränden und kulturellen sowie landschaftlichen Reizen. Für Prähistoriker ist diese Region, die einst von der mythischen Präsenz einer griechischen Göttin (wenn auch von untergeordnetem Rang) bewohnt war und – ganz aktuell – in heißen Sommermonaten Rückzugsort prominenter Römer darstellt, jedoch noch aus einen anderen Grund ganz besonders. Im Jahr 1939 fanden zwei Arbeiter, die auf der Suche nach Steinen als Baumaterial waren, in einer der vielen Höhlen des Vorgebirges und innerhalb eines, so wie sie es interpretierten, Steinkreises einen Schädel und zwei Unterkiefer. Die Funde wurden von den zur Untersuchung bei gerufenen Archäologen sofort als Neandertaler-Überreste klassifiziert.
Die Existenz der angeblichen Steinstruktur und einige Markierungen auf dem Hinterhauptbereich des Schädels veranlassten die ersten Forscher dazu, die Fundstelle als rituellen Handlungsort, zu dem auch Kannibalismus gehörte, zu interpretieren. Obwohl diese Hypothese faszinierend klingt, war sie falsch und wurde etwa 50 Jahre später mit Unterstützung taphonomischer Untersuchungen des Bodens auch offiziell endgültig falsifiziert: Nüchtern betrachtet handelt es sich bei der Höhle um einen Hyänenbau. Hyänen sind bekannt für die extreme Anpassungsfähigkeit ihres Kaumuskels: Ihre Ernährungsweise wird von Taxonomen als Durophagie bezeichnet, was bedeutet dass die Ernährung einer Hyäne Knochen enthält, die unabhängig ihrer organischen Komponente vollständig verdaut werden können (nicht nur das Mark). Hyänen waren daher für die Knochenansammlung, einschließlich der menschlichen Überreste, in der Höhle verantwortlich, was die anfängliche Hypothese widerlegt.
Überreste von 11 Neanderthalern
Wie auch immer, nach dem Fund von 1939 wurde der Standort in den Folgejahren nicht systematisch untersucht. Deshalb wurden 2019 neue Ausgrabungen innerhalb eines Projektes unter der Leitung der Soprintendenza archaeologia, belle arti e paesaggio per le province di Frosinone e Latina in Zusammenarbeit mit der Università degli studi di Roma Tor Vergata begonnen. Dies hat zu der jüngsten, sensationellen Entdeckung von mehreren Knochenresten, die neun verschiedenen Neanderthaler zugeordnet werden können, geführt: Acht Personen, die auf einen Zeitraum vor 50.000 bis 68.000 Jahren und eine ältere Person, die auf einen Zeitraum vor 100.000 bis 90.000 Jahren, datiert werden können. Zusammen mit den Überresten der beiden anderen Individuen, die in den 30er Jahren gefunden wurden, sind es in Summe elf Individuen, die den Capo Circeo zu einem der weltweit wissenschaftlich relevantesten Fundorte der Neanderthaler machen. Dem großen Aufschwung der sogenannten archäologischen Wissenschaften in den letzten Jahrzehnten und den zahlreichen Analysemethoden, die den Wissenschaftlern jetzt zur Verfügung stehen, sei Dank, werden diese Überreste eine Menge wertvoller Informationen preisgeben, die Grundlage für mehrere Forschungsprojekte bilden und schließlich zu neuen Erkenntnissen über unsere Vergangenheit führen werden.
Ich hatte das Glück, die Gelegenheit zu haben, die Höhle auf einer Exkursion, die von Prof. Piperno mit den wenigen Studenten prähistorischer Studien organisiert wurde, zu besuchen: Die Höhle war damals für die Öffentlichkeit geschlossen, und der Zugang dazu war nur über ein (vorübergehend) verlassenes Hotel möglich. Dies trug zur Atmosphäre eines Abenteuers bei, ebenso wie die Rekonstruktion der Höhle im Fundzustand, die auf der Dokumentation von 1939 basierte. Glücklicherweise wird die Höhle bald wieder für die Öffentlichkeit geöffnet und ist nach den aktuellen aufregenden Neuigkeiten, mehr denn je ein Must-See für Archäologie-Kenner.
Gianpiero Di Maida